Heinz Niederer
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Die langsame Enteisung der Wiener Neustadt
Heinz Niederer erlebt Wien als gebaute Geschichte. Die glanzvolle Machtfülle
seiner Gebäude und Parkanlagen erinnern an die grossen Zeiten einer Weltmacht.
Sein Beitrag zur Ausstellung „TransAlpin“ ist ein Brückenschlag von
einem dramatischen Stück Wiener Geschichte zur Welt von heute.
Der Künstler beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit den grossen Polarexpeditionen.
Er, der in jungen Jahren zur See fuhr, hat die öde Inselgruppe im Nordpolarmeer,
das Kaiser-Franz-Joseph-Land, auf Welt- und Seekarten ausgelotet. Er
hat sich in das Tagebuch des Maschinisten Otto Krisch eingelesen und sich in die
Welt des Kapitäns Karl Weyprecht vertieft.
Die Forschungsfahrt der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition begann
am 13. Juni 1872 im norwegischen Hafen Tromsø, als die eisgängige Schonerbrigg
„Admiral Tegetthoff“ unter dem Kommando von Kapitän Karl Weyprecht
mit dem Expeditionsleiter Julius Payer, 24 Mann Besatzung und sieben Schlittenhunden
in See stach. Nördlich der russischen Doppelinsel Novaja-Semlia blieb
die eisenbeschlagene Schonerbark im Packeis stecken.
In dieser frostigen Gefangenschaft verharrten die Männer zwei lange Jahre,
zehn Monate davon in der absoluten Finsternis des Polarwinters. Sie kämpften
gegen Schneestürme, Eispressung, Eisbären und Skorbut. Im Sommer gab es am
Horizont nichts anderes als Eisblink und Wasserhimmel zu sehen.
In einen riesigen Eisteppich eingefroren trieb das Schiff bis 79° 43’ N und 59°
33’ O. Am 30. August 1873 erblickte die Mannschaft erstmals neues Land.
Das Eis war trügerisch und unsicher, sodass sie erst am 2. November 1873 den
unerforschten Archipel in Besitz nehmen und die rot-weisse Fahne der Doppelmonarchie
hissen konnten.
Sie nannten es Kaiser-Franz-Joseph-Land.
Unter der Leitung von Julius Payer erforschten, erstiegen, vermassen und
benannten sie die einzelnen Inseln. Der zentralen Insel gaben sie den Namen
„Wiener Neustadt“.
Am 20. Mai 1874 mussten die Männer ihr durch die Eispressung beschädigtes
Schiff „Admiral Tegetthoff“ aufgeben und es im Eis zurücklassen.
Über die langsam auftauende und auseinanderbrechende Eisdecke schleppten sie
ihre Beiboote, 85 lange Tage, bei nicht mehr untergehender Sonne. Nachdem die
Mannschaft endlich offenes Wasser erreicht hatte, ruderte sie noch zehn Tage in
Richtung sibirisches Festland. Völlig entkräftet wurden die Männer schliesslich vom
russischen Fischereischoner „Nikolaj“ aufgegriffen, der sie gegen fürstliche Entlöhnung
nach Norwegen fuhr. Alles nachzulesen im „Wiener Extrablatt“ vom 25.
September 1874.
Heute bringen russische Eisbrecher gutbetuchte Touristen zum Archipel der vielen
kleinen Eisinseln. Die Teilnehmer dieser Kreuzfahrten ahnen kaum, dass unter der
langsam schmelzenden Eisdecke ungeheure Bodenschätze schlummern. Und kaum
jemand denkt daran, dass Prospektoren das Eisland eines Tages unter sich aufteilen
und schürfen werden.
In seiner Zeitplastik zur Ausstellung „TransAlpin“ reduziert Heinz Niederer die
Wiener Neustadt auf eine Eislandschaft. In diesem Mikrokosmos herrscht Tauwetter.
Der Künstler gibt dokumentarische Rückblicke und Ausblicke auf die Folgen der
globalen Erwärmung.
Dabei schmilzt seine Eisinsel langsam, aber kontinuierlich.
So verändern sich auch die Sichtweisen auf das Zeitgeschehen.

Heinz Niederer: Geboren 1942 in Wädenswil/ZH. Lebt und arbeitet in Zürich.
Ausbildung zum Maschinenschlosser. Mitarbeit bei Silvio Mattioli, Eisenplastiker.
Seit 1975 ausschließlich als Bildhauer tätig. Diverse Preise und Stipendien. Ausstellungen,
Installationen im In- und Ausland.

Rückzug, Grafik nach Julius Payer

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